Reichenow (MOZ) „Flucht nach vorn“ nennt sich ein Theaterprojekt, das in Reichenow (Märkisch-Oderland) Jugendliche aus der Umgebung und junge Flüchtlinge aus den nahen Heimen in Bliesdorf und Kunersdorf bei Wriezen zusammenführt. Geprobt wird über Sprachbarrieren hinweg.


Bunte Truppe: In „Flucht nach vorn“ erzählen Jugendliche, die aus der Umgebung sowie aus zwei Flüchtlingsunterkünften bei Wriezen kommen, Geschichten vor allem auf nonverbalem Weg mit akrobatischen Elementen. © Thomas Berger

„Gut, das war schon ziemlich stark, gerade zu Anfang“, lobt Anja Häusser, nachdem eines der Zweier-Teams seine Szene vorgeführt hat. „Aber in der Mitte fehlte noch das Spiel. Ihr habt Zeit für eure Szene, behaltet den Partner immer im Blick.“ Blickkontakt, Gestik, Mimik – all das ist bei diesem Projekt besonders wichtig. Denn die Inszenierung ist ein Zirkustheaterstück, eine Mischung aus schauspielerischen und artistischen Elementen. Da muss die Regisseurin immer wieder ermahnen, bei aller Konzentration auf die Akrobatik das Spiel, also die Aussagen einer Szene, nicht zu vergessen.

Die etwa 20 Gruppenmitglieder haben sich zu einem Intensiv-Probenwochenende eingefunden. Der große Theatersaal auf dem ehemaligen Gutshof – der seit über 20 Jahren von der Colaborative Reichenow, einer Gruppe von Künstlern und Kulturschaffenden, bewohnt und betrieben wird – ist die geradezu ideale Örtlichkeit. Das Projekt selbst wird wiederum getragen von der Legislative, einem Theaterprojekt des Jugendfördervereins Chance im Großraum Märkische Schweiz.

Schon beim örtlichen Erntefest im vergangenen Herbst, als Anja Häusser eine andere Inszenierung präsentierte, waren ganz kurzfristig binnen weniger Tage mit Flüchtlingen einige Szenen zum Thema Flucht und Asyl ergänzt worden. Einige der seinerzeit Mitwirkenden sind auch jetzt Teil der Gruppe, die zudem etliche Neuzugänge aufzuweisen hat, manche ganz frisch dabei. Aber durchaus mit Talent, wie zwei junge Männer mit ihrer Szene zeigen. „Das war eine tolle Improvisation. Ihr habt die Energie wunderbar gehalten, schön miteinander gespielt – wir haben euch alles geglaubt, was da lief“, ist Anja Häusser begeistert. „Eine gute Basis, mit der wir weiter arbeiten können.“

Nach und nach sind alle an der Reihe mit ihren Szenen. Vanessa und Goman, Stefan und Khadir, Zakia und Jana, Hadi und Ilka. Zu jeder Szene gibt es musikalische Untermalung, sonst allerdings ist alles tonlos. Keine Dialoge, kein Text, Ausdruck und Botschaft nur über die Bewegungen, Abläufe, Blickkontakt und Mienenspiel. „Wir erzählen Theater über Akrobatik. Wenn Artistik und Theater zusammenfließen, wird es eine neue Kunstform“, erklärt die Projektleiterin und legt dies als Herausforderung in großer Runde auch noch mal allen ans Herz.

Zakia, eine junge Afghanin, die schon fließend Deutsch spricht, übersetzt für andere, die erst seit Kurzem hier sind und im Original bisher kaum etwas von den Anweisungen und Ratschlägen verstehen. Ein Theaterstück im klassischen Sinne mit vielen Dialogen wäre denn auch nichts für diese Gruppe, die sich von den teilweise vorhandenen Sprachbarrieren aber nicht stören lässt.

Goman kommt aus Syrien, ist seit etwa einem Jahr in Deutschland. Ein bisschen schwierig sei es schon, sagt er: „Die Akrobatik ist eine Herausforderung, aber es macht auch großen Spaß.“ Seine Bühnenpartnerin Vanessa, die in Strausberg zu Hause ist, ergänzt: „Wir trainieren einfach immer weiter, bis wir es schaffen. Anfangs sah Vieles total schwer aus, jetzt ist das meiste recht einfach.“ Ähnlich geht es Ilka aus dem Nachbardorf Batzlow und Hadi aus Afghanistan, einem weiteren Zweierteam: „Es macht Spaß, und gemeinsam schaffen wir das.“ Obwohl so gut wie keiner in dieser Hinsicht Erfahrungen mitbringt.

Während Anja Häusser vor allem das Spielerische im Blick hat, schaut ihr Kollege Achim Scheffler als Fachmann eher auf das Akrobatische. Komplettiert wird das ständige Betreuerteam durch Mario Paolini (Schauspiel) und Maryam Schulte (Artistik). Am Abend des gleichen Tages ist auch noch Christiane Hommelsheim dabei, die mit den Jugendlichen Stimmtraining macht. Lieder aus der eigenen Kindheit spielen bei der nächsten Übung eine Rolle. Hier vermischen sich dann wiederum die Sprachen aus den verschiedenen Herkunftsländern.

Wie viel ist eigene Persönlichkeit, wie viel Spiel? Genau um diese Frage geht es, als später noch einmal alle zusammensitzen. Jana hat sie aufgeworfen – und wie ihr geht es manch anderen, die noch keine rechte Vorstellung davon haben, was Charakterentwicklung auf der Bühne ist und was eigene Geschichte, Erlebnisse und Empfindungen. Anja Häusser macht es sich mit der Antwort nicht leicht. „Mein Ansatz liegt genau dazwischen“, betont sie einmal mehr. „Wir sind ja keine Schauspieler, die Spieler sind aber auch nicht privat. Das Material kommt von euch – was ihr bringt, können wir einarbeiten.“

Wahrhaftigkeit in der Darstellung sei da ein ganz wichtiges Stichwort. Über die zentrale Frage wird aber sicher noch öfter zu reden sein, schließlich ist das der Ansatzpunkt für das gesamte Projekt. Klarheit darüber, ergänzt Jana, die aus dem Müncheberger Ortsteil Dahmsdorf kommt, sei aber wichtig: „Mein Bauchgefühl sagt mir, dass noch manche Idee in uns schlummert, die bisher noch nicht nach außen gedrungen ist.“

Beim „Tag der Deutschen Einsicht“ am 17. September, einem Theaterfestival in Buckow, soll das Stück in jedem Fall gezeigt werden. Weitere Aufführungen sind in Berlin, im Heim Bliesdorf und in Wriezen geplant.

Red. ,
Über Sprachbarrieren hinweg